Beispiel 18: Multiple Sklerose

Multiple Sklerose schränkt die Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben mit anderen Menschen teilzunehmen, erheblich ein. Das betrifft zum Beispiel gemeinsame Unternehmungen wie Ausflüge, Reisen und geselliges Beisammensein. Wenn die Krankheit einmal ausgebrochen ist, ist das ein knallharter durch die Krankheit bedingter Fakt.

Tatsächlich aber haben nahezu gleiche oder ähnliche Einschränkungen des Verhaltens bereits vor Ausbruch der Krankheit schon existiert, als die Krankheit das noch nicht erzwang. Aus den verschiedensten Befürchtungen heraus, wurde auf bestimmte Verhaltensweisen verzichtet.

Ein mögliches Beispiel ist die Befürchtung, unterwegs bei einem Ausflug mit anderen auf Toilette zu müssen, wenn dafür keine Gelegenheit ist. Wenn Multiple Sklerose erst einmal ausgebrochen ist haben solche Befürchtungen und Einschränkungen eine sehr reale Grundlage. Aber das Entscheidende ist, dass die Verhaltenseinschränkung in irgendeiner Form schon da war, als die Krankheit sie noch nicht erzwang.

Ein weiteres Merkmal bei Multipler Sklerose ist die extreme geistige Beschäftigung mit der Krankheit, die meiner Einschätzung nach weit oberhalb von 50 Prozent der gesamten geistigen Aktivität liegt. Auch hier erscheint das als Folge einer bereits ausgebrochenen Krankheit eine logische Folge. Tatsächlich aber wurde auch den ganz frühen Symptomen der Krankheit schon außerordentlich viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Das zeigt sich auch in häufigen Arztbesuchen und aufwendigen Untersuchungen.

Wenn die positive Diagnose dann kommt, ist eine typische Reaktion: „Ich wusste schon lange, dass etwas nicht stimmt.“ Die gegenwärtige Sichtweise würde in diesem Fall sagen: „Die Patienten ahnten eben, dass sich die Krankheit bei ihnen entwickelte.“ Ich behaupte aber, dass es genau umgekehrt ist: Die extreme geistige Fokussierung hat die Krankheit hervorgebracht. Die Idee, dass etwas nicht mit ihnen stimmt, war zuerst da und die Krankheit ist eine Folge davon.

Multiple Sklerose ist nur eines von mehreren Krankheitsbildern, die alle auf eine ähnliche Weise entstehen, auch wenn die konkreten Befürchtungen, die das Ganze auslösen, inhaltlich vollkommen unterschiedlich erscheinen mögen. Das gilt auch für die Befürchtungen, die zu Multipler Sklerose geführt haben: Es gibt eine große inhaltliche Schwankungsbreite.

Typisch für diese Kategorie von Krankheiten sind Arztbesuche, bei denen zunächst noch keine Ursache festgestellt werden kann. Das ist in meiner Nomenklatur Entwicklungsphase 2: Symptome entwickeln sich, aber noch ohne physische Ursachen.

Ich persönlich glaube an einen Weg der Heilung für MS-Patienten, der über die Auflösung ihrer Befürchtungen läuft. Solange die Krankheit nicht in die 4. Phase irreversibler Schäden übergegangen ist, wäre sogar eine vollständige Heilung möglich. Aber selbst in Phase 4 gäbe es die Möglichkeit, den aktuellen Zustand zunächst zu stabilisieren und in einem gewissen Rahmen auch zu verbessern. Im Grunde kann man sich das so vorstellen: Es gibt immer einen gewissen Heilungsspielraum, aber in einem sehr fortgeschrittenen Stadium reicht dieser Heilungsspielraum nicht mehr bis an einen Zustand vollständiger Gesundheit heran.

Ich weiß, dass dieser Blickwinkel Widerspruch hervorruft: Krankheiten wie Multiple Sklerose werden als ein Schicksals-gegebenes Leiden gesehen, dem der Patient hilflos ausgeliefert ist. Aber diese Sichtweise kommt daher, dass der Körper isoliert betrachtet wird und die psychischen Ursachen außerhalb des Blickfensters liegen. Die Einheit aus Psyche und Körper kann immer einen Weg der Heilung einschlagen, solange sie nicht tot oder im Prozess des Sterbens begriffen ist.

Für Multiple Sklerose bedeutet der Weg der Heilung, sich den einschränkenden Befürchtungen zu stellen und die Grenzen des Handlungsspielraumes schrittweise wieder nach außen zu verschieben. Die Betroffenen müssen sich dafür mit ihren Befürchtungen auseinandersetzen, die sie vielleicht schon seit Jahrzehnten genährt haben. Das ist kein leichter Weg und vor allem bedeutet es für den Patienten, einen Teil der Verantwortung für heilende Maßnahmen selbst zu übernehmen. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu einer Operation oder medikamentösen Heilmethode, wo die Verantwortung nahezu vollständig beim Arzt liegt.

Konkret heißt das, in einem schrittweise wachsenden Maße zu lernen, das Risiko einzugehen, dass das Befürchtete eintritt. Es bedeutet zum Beispiel, einen Ausflug einfach mitzumachen, auch wenn es wegen fehlender Toilette ein Malheur geben könnte. Ich nenne das, “sich einer Befürchtung stellen”. Ein solches Verhalten führt zu zahlreichen negativen Emotionen, die dann voll zugelassen und durchlebt werden müssen.

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